LWF aktuell 154
Soll ich oder soll ich nicht zu meinem Kitz?
von Sophie Baur, Ferdinand Stehr, Andreas König, Annette Menzel und Wibke Peters

Ein Rehkitz liegt im hohen Gras.Zoombild vorhanden

Abb. 1: Rehkitz, versteckt im Gras (© A. Lüpke)

Rehgeißen müssen sorgfältig abwägen, wann, wo und wie oft sie mit ihrem Kitz interagieren. Einerseits ist die Nähe der Geiß zu ihrem Kitz nötig, um das Jungtier vor Fressfeinden zu verteidigen.

Andererseits kann das Liegebett durch zu häufige Kontakte verraten werden. Die Fürsorgestrategie ist daher entscheidend für das Überleben und die Entwicklung der Kitze. Um dieses differenzierte Verhalten zu verstehen, wurden erstmals spezielle Telemetriesender eingesetzt, um die Interaktionen zwischen Rehgeißen und ihren Kitzen in den ersten Lebenswochen zu untersuchen.

Geiß-Kitz-Interaktionen im Fokus

Rehgeißen investieren viel Energie in die Aufzucht ihrer Kitze. Allerdings müssen sie gleichzeitig ihren eigenen Bedürfnissen gerecht werden, denn ihr Energiebedarf steigt in der Säugezeit um bis zu 80 % an (Mauget et al. 1999). Während die Geiß also vor allem nahrungsreiche und geschützte Gebiete nutzt, benötigt das Kitz in erster Linie ein gut verstecktes Liegebett. Diese Wahl trifft das Kitz selbst – allerdings innerhalb des Setz- und Aufzuchtgebiets, das die Mutter vorausgewählt hat (Baur & Kauffert et al. 2023). Zu welchen Zeiten sich Geiß und Kitz an welchen Orten aufhalten und wie oft sie für die Fürsorge zusammenkommen, war bisher größtenteils unbekannt. Orte und Zeiten des Zusammentreffens könnten für beide vorteilhaft sein oder Kompromisse bezogen auf die präferierten Habitate erfordern. Die Beantwortung dieser Fragen ist besonders in landwirtschaftlich genutzten Gebieten wichtig. Kitze sind hier nicht nur natürlichen Fressfeinden ausgesetzt, sondern auch durch die Frühjahrsmahd gefährdet.

Bisher war wenig über die genauen Treffpunkte und -zeiten zwischen Geiß und Kitz bekannt. Frühere Untersuchungen zu Geiß-Kitz-Interaktionen basierten überwiegend auf Beobachtungen aus Wildgehegen. Ein wesentlicher Nachteil dieser Studien besteht darin, dass sich das Verhalten im Gehege oft vom natürlichen Verhalten unterscheidet. Diese Beobachtungen beinhalten zwangsläufig einen gewissen Grad an menschlichem Einfluss – insbesondere bei heimlichen Arten wie dem Rehwild.

Eine Möglichkeit, diesen Einfluss auszuschließen, ist der Einsatz von Telemetriehalsbändern, mit denen Wildtiere in freier Wildbahn besendert werden. Deren Einsatz war bei Jungtieren bislang aufgrund von Größe und Gewicht der Geräte nicht oder nur begrenzt möglich. In einem Forschungsprojekt der LWF und der TUM wurden erstmalig neue Sensortechnologien eingesetzt, die nicht nur eine Besenderung von Rehgeißen, sondern auch ihrer Kitze ermöglichten. Eine zusätzliche Besonderheit bestand in der Kommunikationsfähigkeit zwischen Geiß- und Kitz-Sender, wodurch hochaufgelöste und unbeeinflusste Daten zu den Geiß-Kitz-Interaktionen erhoben werden konnten.

Besenderung von Geiß-Kitz-Pärchen

Rehkitz in den Händen der WissenschaftlerZoombild vorhanden

Abb. 2: Neue Sensortechnologie ermöglicht erstmals auch die Besenderung von Kitzen. Hier wird ein Kitz besendert (© A. Lüpke)

Im Rahmen des Projektes »Wildtierrettungsstrategien« wurden in drei Projektgebieten 49 Rehgeißen in den Wintermonaten zwischen 2021–2023 mit Kasten- oder Netzfallen gefangen und mit GPS-Telemetriehalsbändern besendert. Um im darauffolgenden Frühjahr mögliche Kitze dieser Geißen ausfindig zu machen, wurde mit Wärmebilddrohnen (im Offenland) und Wärmebildhandgeräten (im Wald) nach diesen gesucht. Waren die aufgespürten Kitze alt und schwer genug, wurden auch sie mit leichten, mitwachsenden Telemetriehalsbändern ausgestattet. Zwar war es nicht in allen Fällen möglich, die passenden Kitze zu den besenderten Geißen zu finden, dennoch konnten letztlich 21 Geiß-Kitz-Paare mit ausreichender Datenlänge in die Analyse einbezogen werden. All das wurde unter Einhaltung der entsprechenden rechtlichen Vorgaben und Genehmigungen durchgeführt. Die Datenerfassung der Geiß-Sender betrug ca. ein bis anderthalb Jahre, die der Kitze, aufgrund der geringeren Größe und der damit verbundenen kürzeren Batterielaufzeit, nur einige Wochen bis Monate.

Die verwendeten Telemetriesender zeichneten einerseits die Position (GPS-Koordinaten) von Geiß und Kitz zu festgesetzten Uhrzeiten auf. Andererseits registrierte ein Teil der Geiß-Sender (14 »Proximity«-Sender) jedes Mal einen Kontakt (Uhrzeit und Koordinate), wenn sich das eigene Kitz in einem zuvor definierten Abstand zur Geiß aufhielt. Diese Kontakte interpretierten wir als »Fürsorgeaktionen«. Die gesammelten Positionsdaten wurden weiterhin mit Geoinformationsdaten verknüpft. So konnte das Habitat, in dem sich Mutter- und Jungtier aufgehalten oder getroffen haben, charakterisiert werden. Um die Interaktionen zwischen der Geiß und ihrem Kitz zu untersuchen, wurden vier Fragen zum Zeitpunkt, Ort und der Habitatnutzung analysiert (siehe Tabelle 1).

Tab. 1: Überblick über die Fragestellungen sowie verwendete Daten und Methoden zur Analyse der Geiß-Kitz Interaktionen.
Zeitliche AnalyseRäumliche AnalysenRäumliche AnalysenRäumliche Analysen
FragestellungZeitpunkt der Interaktion zwischen Geiß und KitzDistanz zwischen Geiß und KitzHabitatnutzung von Geiß und KitzGemeinsam genutzte Habitate für Interaktionen
DatensatzKontakt-Datensatz (Uhrzeit)GPS-Datensatz von Geiß und KitzGPS-Datensatz von Geiß und KitzKontakt-Datensatz (GPS-Koordinaten)
GeoinformationsdatenGeoinformationsdaten
MethodeGeneralisiertes Additives Modell (GAM)Generalisiertes Additives Modell (GAM)Latent Selection Difference Function (LSD)Räumliche Vorhersage/Habitatnutzungskategorien
Zeitraum50 Tage50 Tage60 Tage60 Tage

Wann interagiert eine Geiß mit ihrem Kitz?

Liniendiagramm mit roter Linie, orangenem Konfidenzintervall und roten PunktenZoombild vorhanden

Abb. 3: Neue Sensortechnologie ermöglicht erstmals auch die Besenderung von Kitzen. Hier wird ein Kitz besendert. © Alissa Lüpke

Die Ergebnisse zeigen eine starke Variation der Kontakte zwischen Geiß und Kitz im Tagesverlauf (Abbildung 3, links). Die Kontakte fanden vor allem in der Dämmerung statt und abends häufiger als morgens. So betrug die relative Häufigkeit der Kontakte im Vergleich zum Tag + 4,8 % bzw. + 19,3 %. Dieses Muster folgt dem grundsätzlichen Aktivitätsmuster von Rehgeißen, explizit auch dem von reproduktiven Rehgeißen (Benoit et al. 2023). Diese Angleichung der Fürsorgekontakte an die Aktivitätsmuster der führenden Geiß wurde auch für andere Hider-Huftiere (Arten, bei denen sich die Jungen in den ersten Lebenstagen-/wochen versteckt ablegen und dort alleine verharren) nachgewiesen (Blank et al. 2015). Wie wichtig die Terminierung ist, zeigen Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt der Kontakte und der Überlebensrate der Jungtiere feststellen konnten (Muthersbaugh et al. 2024).

Wie weit ist eine Geiß von ihrem Kitz entfernt?

Wildtierkamerabild einer Geiß mit ihrem KitzZoombild vorhanden

Abb. 4: Aufnahme einer Wildtierkamera von einer Rehgeiß und ihrem Kitz. (© LWF)

Kurz nach der Geburt ist die Etablierung einer starken Bindung zwischen Geiß und Kitz sehr wichtig für dessen Überleben, weshalb die Distanzen anfangs häufig sehr gering sind (z. B. Linnell et al. 1998). Die Ergebnisse zeigen eine Zunahme der durchschnittlichen Distanz in den ersten 36 Tagen und danach, mit dem Älterwerden der Kitze, wieder eine leichte Abnahme. Diese altersbedingte Veränderung hängt wahrscheinlich mit dem steigenden Aktivitätsniveau der Kitze zusammen: Werden die Kitze älter und zunehmend selbstständiger (Linnell et al. 1998), synchronisiert sich deren Aktivität mit der der Geiß. In unserer Analyse betrug die Distanz zwischen Geiß und Kitz in den ersten 50 Lebenstagen im Mittel 53 m und schwankte zwischen 36 m und 162 m bei den einzelnen Geiß-Kitz-Paaren (Abbildung 3, rechts).

Besonders in den ersten Lebenswochen und mit zunehmender Aktivität der Jungtiere ist die Sterblichkeit hoch (Aanes and Andersen 1996; Linnell et al. 1998). Es ist bekannt, dass Fressfeinde (Prädatoren) weniger erfolgreich sind, wenn Mütter ihre Jungen verteidigen. Daher bleibt die Geiß oft in der Nähe des Liegebetts. Doch gerade in offenen Landschaften kann dieses Verhalten auch Prädatoren anlocken: Durch die Anwesenheit der Geiß können diese das Liegebett leichter auffinden (Jarnemo 2004). Eine erfolgreiche Ablegetaktik (hiding) erfordert daher, dass die Geiß den Aufenthaltsort ihres Kitzes gut verbirgt und eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz findet. Deshalb nähern sich diese Mütter oft vorsichtig und wachsam den abgelegten Jungtieren (Blank et al. 2015).

Nutzen Geißen und Kitze unterschiedliche Lebensräume?

Diagramm mit Boxplots zur Habitatnutzung von Geißen und KitzenZoombild vorhanden

Abb. 5: Die Relative Selektionsstärke (log-RSS) der LSD-Modelle für die Habitatnutzung von Rehgeißen im Vergleich zu ihren Kitzen für verschiedene Landnutzungsarten und Alterskategorien. Wintergetreide diente als Referenzkategorie. Kreise bedeuten, dass die Geißen das Habitat signifikant häufiger nutzten – Quadrate, dass die Kitze es signifikant häufiger nutzten (grau = keine signifikanten Unterschiede).

Um dieser Frage nachzugehen, haben wir unterschiedliche Geoinformationsdaten wie die Landnutzungsarten, die Distanz zu Straßen und Wegen oder die Distanz zur nächsten Habitatgrenze (Wald-Feld) mit den Koordinaten des alleinigen Aufenthaltsortes von Geiß und Kitz verknüpft und mit einem statistischen Modell (LSD) einander gegenübergestellt. Hierbei wurde gemessen, ob die Geiß in Relation zu ihrem Kitz beispielsweise eine Landnutzungsart häufiger nutzte. Zusätzlich wurden die Daten in verschiedene Altersklassen-Modelle unterteilt, um eine Abhängigkeit der Habitatnutzung vom Kitzalter zu berücksichtigen (1–14, 15–30, 31–45 und 46–60 Tage). Als Referenzkategorie für die Landnutzungsarten wurde in den Analysen Wintergetreide gewählt.

In den ersten vier Lebenswochen nutzten Kitze ungemähte Grünlandflächen häufiger als ihre Mütter. Die Geißen hingegen nutzten bereits gemähte Grünlandflächen in den Altersklassen 15–30, 31–45 und 46–60 signifikant häufiger. Das verdeutlicht das hohe Gefährdungspotential dieser Flächen für Kitze bei der Grünlandmahd. Denn ungemähte Flächen bieten ihnen wichtigen Schutz und Versteckmöglichkeiten. Die Flächennutzung ist zudem an das Wachstum und die Ernte der Pflanzen gekoppelt (Panzacchi et al. 2010; Linnell et al. 2004). Sobald das Grünland gemäht ist, bieten die Flächen keinen Schutz mehr. Gleichzeitig fördert die Grünlandmahd jedoch das Pflanzenwachstum und erhöht die Nahrungsqualität, weshalb die Geißen gemähtes Grasland häufiger nutzten als ihre Kitze. Die Nutzung in Abhängigkeit des Futter- bzw. Schutzpotentials zeigte sich auch bei den Maisfeldern: Diese wurden von Kitzen in den ersten vier Lebenswochen ebenfalls häufiger genutzt, während die Geißen sie im Vergleich zu ihren Kitzen erst ab einem Kitzalter von 31 Tagen vermehrt nutzten. In Bezug auf Waldgebiete war die Habitatnutzung in den ersten Lebenswochen der Kitze (Altersklassen 1–14) nicht signifikant unterschiedlich. Jedoch nutzten Geißen in den beiden mittleren Altersklassen ihrer Kitze (15–30 und 31–45) Waldgebiete häufiger als ihre Kitze, wahrscheinlich aus Deckungsgründen. Auch brachliegende Flächen wurden signifikant häufiger von Geißen als von Kitzen in den Altersklassen 15–30 und 31–45 genutzt.

Details zu allen weiteren einbezogenen Variablen werden in Baur et al. (2024) dargestellt. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass Geißen und ihre Kitze in den ersten Lebenswochen des Jungtiers unterschiedliche Habitatpräferenzen haben, wobei die Altersentwicklung der Kitze einen bedeutenden Einfluss auf die Wahl des Lebensraums hat. Die verschiedenen Präferenzen resultieren aus den unterschiedlichen Bedürfnissen: Führende Geißen suchen Schutz und Nahrung, während ihre Kitze in den ersten Wochen auf deckungsreiche Liegebetten angewiesen sind.

Wo trifft sich die Geiß mit ihrem Kitz?

Balkendiagramm mit TrendlinieZoombild vorhanden

Abb. 6: Anteile beobachteter Geiß-Kitz-Kontakte in verschiedenen Habitatkategorien (braun) im Vergleich zur relativen Verfügbarkeit der Kategorie innerhalb des gemeinsamen Streifgebiets (grau). Die Skala ordnet die Kategorien entlang der relativen Habitatpräferenzen: Werte nahe 1 stehen überwiegend für von Kitzen bevorzugte Habitate, höhere Werte bis 5 für jene mit Geiß-Präferenz. Es zeigen sich Bereiche mit erhöhten Kontaktraten und ob diese sich mehr an den räumlichen Präferenzen von Kitzen oder Geißen orientieren.

In den ersten zwei Lebensmonaten fanden die Kontakte unerwarteterweise meist an von der Geiß bevorzugten Orten statt. Später verschoben sich die Kontakte zunehmend in von Kitzen bevorzugte Habitate. Allerdings waren diese Unterschiede zwischen den aufgesuchten Habitatnutzungskategorien statistisch nicht signifikant (Abbildung 6, links). Wir interpretieren dieses Verhalten als Teil der sogenannten »konservativen Fürsorgestrategie« des Rehwilds, bei der führende Geißen ihre eigene Überlebens­sicherung priorisieren (Gaillard and Yoccoz 2003) und daher zunächst Orte wählen, die vor allem ihren eigenen Bedürfnissen entsprechen. Erst mit zunehmender Eigenständigkeit der Kitze verteilen sich die Geiß-Kitz-Interaktionen gleichmäßiger über die verschiedenen Habitatnutzungskategorien.

Diese Geiß-Kitz-Interaktionen fanden oft in Bereichen mit hoher Deckung, hauptsächlich im Wald, statt. Solange die Kitze jung waren, hielten sie sich noch vermehrt im Grünland auf. Mit zunehmendem Alter lässt sich eine gesteigerte Nutzung von Wintergetreideflächen erkennen (Abbildung 6, rechts). Das deutet darauf hin, dass ein ausreichender Schutz für Geiß und Kitz eine zentrale Rolle spielt. Diese Ergebnisse unterstreichen, dass die Orte, an denen die Interkationen stattfinden, nicht nur die Bedürfnisse der Jungtiere erfüllen, sondern auch durch mütterliche Strategien zur Risikominimierung geprägt sind.

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Autoren

  • Sophie Baur
  • Ferdinand Stehr
  • Andreas König
  • Annette Menzel
  • Wibke Peters