Anton Fischer, Barbara Michler und Hagen S. Fischer
»Letzte Hilfe« für eine aussterbende Waldgesellschaft - LWF-aktuell 110

Vor 50 Jahren waren ausgedehnte Kiefernwälder mit grauen Flechtenmatten kennzeichnend für die großen Sandgebiete Deutschlands. Heute sind die Flechten aus diesen Waldbeständen weitgehend verschwunden. Obwohl sie keinen natürlichen Ursprung haben, sondern eine Folge menschlichen Handelns sind, sind Flechtenkiefernwälder nach internationalem Naturschutzrecht geschützt. Der dramatische Rückgang der Flechtenkiefernwälder veranlasste die Bayerische Forstverwaltung, nach Möglichkeiten und Wegen zu suchen, diese aussterbende Waldgesellschaft doch noch zu erhalten.

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Abbildung 1: Cetraria islandica, eine Flechte (Foto: H. S. Fischer)

Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein waren Kiefernwälder mit einem starken Flechtenunterwuchs auf Sandböden weit verbreitet, so etwa in Brandenburg oder (in Bayern) im Nürnberger Reichswald. Es existieren alte Fotos, auf denen unter (meist schlechtwüchsigen) Kiefern nichts zu sehen ist als ein grauer Teppich von Flechten. Auch gibt es pflanzensoziologische Aufnahmen, die dies, nach Arten aufgeschlüsselt und mit Deckungsgraden hinterlegt, belegen.

Heute dagegen findet man bestenfalls noch auf wenigen Quadratmetern kleine Gruppen von Flechten am Boden. Ansonsten ist der Waldboden von dichten Moosteppichen, stellenweise von Blaubeerdecken bewachsen (Abbildung 2).
Zwei nebeneinander stehende Abbildungen von mittelalten Kiefernbeständen. Links sind Flechten als Bodenbewuchs, rechts Beerkrautvegetation zu erkennen.Zoombild vorhanden

Abbildung 2: Kiefernwälder heute (re.) und wie sie früher aussahen (li.); Fotos: H. S. Fischer

Täuschen die alten Fotos und pflanzensoziologischen Aufnahmen, da sie vielleicht an Extremstellen aufgenommen wurden? Oder sind die Flechtenkiefernwälder tatsächlich im Begriff auszusterben? Und wenn so: Was ist dann zu tun? Aufgabe des Kuratoriumsprojektes L54 (Michler und Fischer 2014) war es, diese Fragen für Bayern zu klären, und zwar sowohl bezüglich der »Quantität« dieser Waldgesellschaft (bewachsene Fläche) als auch bezüglich ihrer Qualität (Flechten- Artenzahl und Flechten-Menge).

Die Ergebnisse zeigten: Die Degradation der Flechtenkiefernwälder – quantitativ wie qualitativ – ist noch viel stärker fortgeschritten als vorab schon befürchtet. Die letzten noch existierenden kleinen Bestände werden innerhalb weniger Jahre verschwinden, wenn nicht durch geeignete Maßnahmen massiv gegengesteuert wird. Geeignete Maßnahmen haben wir in einem »Handbuch« eines Schutz- und Hilfsprogramms für Flechtenkiefernwälder in Bayern erarbeitet (ST 318).

Flechtenkiefernwälder damals und heute

Zunächst wurde versucht, möglichst viele historische pflanzensoziologische Aufnahmen der Flechtenkiefernwälder aus Bayern zusammenzutragen. Manche Autoren hatten sich damals ausschließlich mit dieser Waldgesellschaft beschäftigt, andere mit allen (Wald-) Pflanzengesellschaften der sandreichen Gebiete Bayerns. Viele Aufnahmen wurden publiziert, viele waren aber in Projektberichten, Diplom- und Doktorarbeiten »versteckt«. Alle verfügbaren Vegetationsaufnahmen wurden in die WeiVegBase-Datenbank (Fischer H. S. et al. 2014) integriert. Jeder Teildatensatz wurde dann mit einer multivariaten Standardanalyse nach Wildi (1989) klassifiziert und die flechtenreichen Kiefernwälder für den Referenzdatensatz ausgewählt.

Alte Vegetationsaufnahmen als Referenz

Diagramm mit unterschiedlich grünen Vierecken, die den Deckungsgrad signifikanter und nicht signifikanter Arten von 1984 bis 2014 anzeigen.Zoombild vorhanden

Abbildung 3: Vergleich historischer und aktueller (2014)
Vegetationsaufnahmen

Übrig blieben 216 pflanzensoziologische Aufnahmen, die die Flechtenkiefernwälder Bayerns im Zustand zwischen 1950 und 1996 darstellen. Ihr »Inhalt«, d.h. die Gesamt-Artenkombination einschließlich der für jede Art gegebenen Mengenangaben, entspricht exakt dem, was man auf den entsprechenden alten Fotos sehen kann. Dieser Datensatz wird als »Referenz « der Flechtenkiefernwälder bezeichnet. An ihm kann zukünftig gemessen wer den, wie die naturschutzfachliche Qualität eines Bestandes zu bewerten ist.

In den vergangenen Jahren sind an einigen Stellen, die durch solche historische pflanzensoziologische Aufnahmen belegt sind, Wiederholungsaufnahmen durchgeführt worden. Teils lagen uns diese Wiederholungsaufnahmen publiziert vor, teils wurden sie von unserer Arbeitsgruppe selbst erhoben. Vergleicht man die historischen mit den rezenten (wohlgemerkt: an denselben Stellen wieder aufgenommenen) Aufnahmen, so wird klar: Nur noch ganz wenige der aktuellen Aufnahmen entsprechen dem damaligen Zustand, dem »Referenz«-Datensatz (Abbildung 3).

Die Deckung der Flechten ist von etwa 39 % (Median) auf annähernd 0 % zurückgegangen, wogegen die Moose von etwa 20 auf rund 65 % Deckung zugenommen haben. Das gilt nicht nur für bewirtschaftete Wälder. Auch in Waldbeständen des mittelfränkischen Naturwaldreservats »Grenzweg« ist ein entsprechend starker Rückgang der Flechten festzustellen, obwohl das Ziel seiner Ausweisung gerade der Schutz und Erhalt dieser Waldgesellschaft gewesen war.

Konsequenz des Aussterbens der Flechten: Kiefernwälder ohne Flechten sind keine Flechtenkiefernwälder mehr. Ein Vergleich historischer Kartierungen mit rezenten Wiederholungen zeigt: In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Fläche der Flechtenkiefernwälder in Bayern (Fischer, A. et al. 2015) wie in Nordostdeutschland (Heinken 2008; Fischer, P. et al. 2014) um etwa 90 % zurückgegangen.

Warum versagen »klassische« Naturschutzmaßnahmen?

Um die Entwicklung zu verstehen, muss man einen Blick auf die Biologie der Flechten werfen. Flechten sind keine Pflanzen! Und natürlich sind es auch keine Tiere. Was also dann? Flechten sind Pilze, die sich aber mit bestimmten Algen zusammengetan haben. Pilze ziehen üblicher Weise die von ihnen benötigte Energie aus dem Abbau organischer Substanz.

Einige Pilze haben »gelernt«, sich die benötigte Energie via Fotosynthese von eingelagerten einzelligen Algen bzw. Blaualgen liefern zu lassen. Dann wird daraus eine Flechte: Der Pilz liefert die »Struktur « (das »Gewebe«), die in das »Gewebe« eingelagerte Alge liefert die Energie. Vorteil für den Pilz: Er kann auch dort wach sen, wo es wenig organische Substanz zum Abbauen gibt. Vorteil für die Alge: Sie sitzt geschützt in der vom Pilz angebotenen Struktur. Zusammen stellen sie ein morphologisch eindeutig beschreibbares Gebilde dar: eine Flechten-»Art«.

Nachteil dieses Zusammenlebens: Viel Pilz muss von wenig Alge ernährt werden (Flechten sind eben grau und nicht grasgrün!). Das bedeutet: Es muss erstens genügend Licht für die Fotosynthese der Alge zur Verfügung stehen, und zweitens dürfen, da Flechten deshalb sehr langsam wachsen und somit rasch anderen Arten unterliegen würden, keine konkurrierenden Arten hinzutreten.

Streurechen gut und Düngung schlecht?

Deshalb kommen Flechten immer nur dort vor, wo diese beiden Rahmenbedingungen zusammen realisiert sind: Genügend Licht und keine (hochwüchsigen) Konkurrenten. Das ist zum Beispiel der Fall auf sandigen Quarzböden mit sehr geringer Wasser- und Nährstoff-Speicherkapazität, auf denen Moos-, Kraut- und Baumschicht schlechtwüchsig sind. Einer Verbesserung der Böden hatte das über mindestens zwei Jahrhunderte praktizierte Streurechen entgegengewirkt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fiel aber nicht nur dieser devastierende Eingriff weg, vielmehr wurde in Mitteleuropa via Immissionen flächig Stickstoff in pflanzenverfügbarer Form zugeführt.

Die Lebensbedingungen für die Konkurrenten der Flechten wurden deutlich besser, die Grundlage, das »Geschäftsmodell« der Flechten verschwand. Daraus wird verständlich, warum die klassische Naturschutzstrategie bei den Flechtenkiefernwäldern vollständig versagen muss: Während sich zum Beispiel Buchenwälder in Richtung eines natürlicheren Zustand entwickeln, sobald man sie aus der weiteren Bewirtschaftung entlässt, verlieren Flechtenkiefernwälder ihre Flechten und damit ihren Charakter.

Mit den »klassischen « Maßnahmen des Naturschutzes – Unterbinden jeden Eingriffs in das System – kommt man hier nicht weiter. Fast alle historischen Flechtenkiefernwälder entsprechen also nicht der potenziellen natürlichen Vegetation (pnV), deshalb ist zu ihrem Erhalt ein Managementeingriff (hier: eine »Devastierung«) zwingend erforderlich.

Wie man dem Verlust vielleicht doch entgegen wirken kann

Nahaufnahme von Flechten.Zoombild vorhanden

Abbildung 4. Cladonia fimbriata wird etwa 2 cm hoch. (Foto: H. S. Fischer)

In einem »Handbuch« zum begleitenden Schutz der verbliebenen Flechtenkiefernwälder wurde zusammengestellt, was wo gemacht werden kann, um ihrer weiteren Degradation bis hin zu ihrem baldigen Totalverlust entgegenzuwirken. Zunächst identifizierten wir im Auftrag der Forstverwaltung diejenigen Gebiete, in denen sich die letzten Reste dieser Waldgesellschaft konzentrieren. Eines dieser Konzentrationsgebiete umfasst überwiegend Privatwald, so dass Maßnahmen nicht zwingend veranlasst werden können. In einem zweiten Konzentrationsgebiet sind die Waldbestände möglicherweise durch Munition verseucht (ehemaliger Truppenübungsplatz), so dass aufwendige und kostenintensive Räumungsarbeiten nötig würden.

Das größte Gebiet mit zahlreichen kleinen Flechtenkiefernwald-Restbeständen liegt zwischen Leinburg und Altdorf im Nürnberger Reichswald (Größe des Landschaftsausschnitts ca. 25 km2), ein zweites mit zerstreut vorkommenden Einzelflächen bei Bodenwöhr/Roding. Mit dem Wegfall des Streurechens nach dem Zweiten Weltkrieg und der dann starken Düngung über den Luftweg sind die Lebensgrundlagen der Flechten, wie oben dargestellt, verloren gegangen. Voraussetzung für jedes Unterstützungs- und Wiederherstellungsprogramms ist deshalb das regelmäßige »Rückstellen« des Waldsystems auf einen nährstoffarmen Ausgangszustand.

Das wird nicht das »klassische« Streurechen per Hand sein, aber ein Abzug der organischen Auflagen mittels kleiner, geländegängiger Maschinen ist heute rationell durchführbar. Ein solcher Eingriff widerspricht allerdings jeglichen gängigen Vorstellungen und Konzepten zur naturnahen Entwicklung von Wäldern. Da aber zumindest der größte Teil der Flechtenkiefernwälder (in Bayern und wohl in Mitteleuropa) nicht »Urnatur« ist, sondern ein System aus Menschenhand repräsentiert, verändert er sich, sobald der Einfluss dieser Menschenhand entfällt: Flechtenkiefernwälder können, wenigstens in Mitteleuropa, nur durch Menschenhand wieder in den vorigen Zustand gebracht und dann in diesem Zustand gehalten werden.

Flechtensaaten

Aber selbst ein modernes Streurechen alleine reicht nicht mehr aus, die Flechtenkiefernwälder wenigstens mittelfristig zu sichern. Früher wurden beim Abrechen der organischen Auflagen die vorhandenen Flechten zertreten und zerdrückt. Auf diesem Wege entstanden vor Ort zahlreiche Flechten-Bruchstücke, die gleich auf dem nun offenen Sandboden landeten. Diese Flechten-Bruchstücke enthielten sowohl den Pilz als auch die Alge und wuchsen einfach weiter. Heute sind in den meisten Kiefernwäldern auf Sand gar keine oder kaum noch Flechten vorhanden. Das Streurechen schafft zwar offene Wuchsplätze, aber die Flechten haben kaum eine Chance, sie wieder rasch zu erreichen. Deshalb müssen die auf der Management-Fläche noch vorhandenen Flechten-Restpopulationen vor dem Pflegeeingriff abgesammelt, getrocknet und zwischengelagert werden.

Nach dem Abziehen der organischen Auflage werden die getrockneten Flechten »zerbröselt« und die Thallus-Bruchstücke auf der Fläche ausgesät. Damit wird auch klar, welche der potenziell möglichen Flächen ab gezogen werden sollen. Sicher nicht diejenigen Bestände, die aus heutiger Sicht noch als »optimal« anzusehen sind; denn diese würden der Wiederherstellung zunächst ja zum Opfer fallen. Ungeeignet sind natürlich auch die Flächen ohne Flechten; denn dort kann kein Flechtenmaterial zum Ausstreuen gewonnen werden. Bleiben also nur die Bestände mit kleinen Restpopulationen von Flechten, mit der Option, deren Population dann dort zu vergrößern.

Besonders günstig wäre es, die Maßnahmenfläche in unmittelbarem Kontakt zu noch relativ guten Flechtenkiefernwald-(Klein-)Beständen anzulegen, um einen spontanen Austausch möglich zu machen. Nur die Flechten des abzuziehenden Bestandes oder der allernächsten Umgebung sind einzusetzen; denn es darf nicht darum gehen, durch gezielte »Komposition« irgendwelche Zielvorstellungen der Flechten-Artenkombination abzubilden. Und natürlich sind bei allen Maßnahmen die erforderlichen Bewilligungen einzuholen.

Sind die Flechtenkiefernwälder auf diese Weise zu retten?

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Abbildung 5: Cladonia rangiferina, auch Echte Rentierflechte genannt (Foto: H. S. Fischer)

»Erste Hilfe« wird geleistet, wenn es einem Patienten plötzlich sehr schlecht geht. Diese Bezeichnung passt auf das Flechtenkiefernwald-Problem eigentlich nicht. Denn der »Patient Flechtenkiefernwald « ist nicht kurzfristig in diese dramatische Situation geraten. Vielmehr läuft der Degradationsprozess schon seit mindestens zwei Jahrzehnten. Uns fällt erst heute auf, wie schlimm es um den Patienten steht. Sollen die Flechtenkiefernwälder in Bayern auch in Zukunft noch existieren, werden Maßnahmen notwendig, die im Wald-Naturschutz ungewöhnlich sind.

Flechtenkiefernwälder sind auch viel eher mit den Magerrasen als zum Beispiel mit Buchenwäldern zu vergleichen: Wie die Magerrasen sind die Flechtenkiefernwälder (ganz überwiegend) ein Element der historischen Kulturlandschaft, gehören also nicht zur potenziellen natürlichen Vegetation Bayerns, und ohne Wiederherstellen oder zumindest Simulieren der früheren Nutzungsweisen sind beide nicht flächig zu erhalten. Während damals das »Management« aus der seinerzeitigen wirtschaftlichen Nutzung resultierte, kostet es heute Geld. Der Erhalt oder gar die Wiederherstellung der Flechtenkiefernwälder kann also nur auf kleinen Flächen realisiert werden.

Dennoch ist auch dieser Waldtyp ein Teil unserer gewachsenen Umgebung, und er ist nach FFH-Richtlinie der EU (RL 92/43/EWG) als Lebensraumtyp »91T0 Mitteleuropäische Flechten-Kiefernwälder« gesetzlich geschützt. Wenigstens einige Beispiele davon sollten also auch in Zukunft noch zu sehen und zu studieren sein, die entsprechenden Arten auch in Zukunft die biologische Vielfalt Bayerns unterstreichen. Ein detaillierter Maßnahmenkatalog existiert. Wenn er nicht schnell umgesetzt wird, dann werden die Flechtenkiefernwälder aus Bayern aber bald verschwunden sein. Insofern ist es wohl die »Letzte Hilfe«, die wir diesem Ökosystemtyp in Bayern zukommen lassen können.

Zusammenfassung

Flechtenkiefernwälder zählen zu den nach der FFH-Richtlinie geschützten Waldtypen. In Bayern sind jedoch bereits 90 % der ehemaligen Flechtenkiefernwälder verschwunden, wie eine vegetationskundliche Studie der TUM nun herausgefunden hat. Flechtenkiefernwälder zählen nicht zur natürlichen Vegetation, sondern sind erst im Laufe der letzten Jahrhunderte durch eine besondere Bewirtschaftungsmaßnahme – dem Streurechen – auf nährstoffarmen Sandböden entstanden.

Das fehlende Streurechen und hohe Nährstoffeinträge sind für den dramatischen Rückgang verantwortlich. Die wenigen Flechtenkiefernwälder könnten jedoch eventuell noch mit bestimmten Maßnahmen gerettet werden – in Form einer »Letzten Hilfe«.

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Weiterführende Links

Autoren

  • Prof. Dr. Anton Fischer
  • Dr. Barbara Michler
  • Dr. Hagen S. Fischer