Ilex als Relikt immergrüner Wälder im Klimawandel – LWF Wissen 85
von Hansjörg Küster

Zweig einer Stechpalme, auf denen Blättern liegst SchneeZoombild vorhanden

Abbildung 1: Schnee wird zwischen den »Stacheln« der Stechpalmenblätter festgehalten
(© Dr. H. Küster)

Zusammenfassung: Dargestellt wird die Verbreitungsgeschichte von Ilex und Hartlaubwäldern in Europa seit dem Paläogen. Die »Stacheln« der Blätter halten den Schnee zurück und bilden deshalb möglicherweise einen Frostschutz für das Hartlaub der Stechpalme, vor allem in einem ozeanischen Klima. Die »Stacheln« boten in den vergangenen Jahrtausenden auch einen Fraßschutz in beweideten Wäldern.


Die Stechpalme (Ilex aquifolium) ist aus mitteleuropäischer Sicht ein ungewöhnliches Gewächs. Denn sie ist, abgesehen vom nur an wenigen Stellen wachsenden Buchsbaum und der als Halbparasit wachsenden Mistel, das einzige immergrüne Gewächs mitteleuropäischer Wälder. Immergrün bedeutet nicht, dass die Blätter ein »ewiges« Leben haben; die Blätter der Stechpalme fallen vielmehr zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu Boden, und es können auch zu jeder Zeit, vor allem im Frühjahr, neue Blätter erscheinen.

Immergrün sind die Pflanzen aber, weil sie zu jeder Jahreszeit grünes Laub tragen, genauso wie Bäume der Tropen und der subtropischen Hartlaubwälder. Tropische Ökosysteme sind die einzigen auf der Welt, in denen es niemals Frost gibt. Daher können dort auch Gewächse mit zartem Laub überleben. Im Kronenbereich besitzen die Bäume aber Blätter, deren Epidermis eine dicke Cuticula aufweist. Dort herrschen wegen der intensiven Sonnenstrahlung sehr hohe Temperaturen, die sich von denjenigen im Inneren des Waldes erheblich unterscheiden können.

Ilex im Loorbeerwald

In allen außertropischen Gebieten der Erde kann es gelegentlich zu Frost kommen. Die meisten immergrünen tropischen Gewächse werden durch Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes geschädigt: Wasser gefriert in den Blättern, genauer gesagt im Zellplasma und in den Vakuolen, und das Eis dehnt sich dabei aus. Dadurch werden die Zellmembranen von innen zerrissen. Sie verlieren ihre Funktion der Abgrenzung des Zellplasmas und beim Wiederanstieg der Temperatur fließt das Wasser aus den Zellen: Die Zellen und damit die Blätter insgesamt vertrocknen. Daher können in außertropischen Breiten nur Pflanzen dauerhaft bestehen, die über sehr stabile Blätter verfügen, oder die ihre Blätter in der kalten Jahreszeit abwerfen.
In den Subtropen gibt es sehr regenreiche Gebiete, in denen aber auch heiße und trockene Perioden auftreten. Deswegen kommen dort nur Gewächse mit dicken Wachsschichten auf ihrer Epidermis vor – genauso wie in den Tropen, wo dieses Merkmal nur an den oberen Blättern ausgebildet ist. Epidermen mit einer dicken Cuticula und zusätzliche stabilisierende Einschlüsse der Blätter, die man als Sklerenchyme bezeichnet, lassen das Laub vieler Bäume der Subtropen als sehr hart erscheinen. Die dicke Wachsschicht der Blätter, die eine übermäßige Wasserabgabe durch Transpiration verhindert, gibt dem Laub auch bei tiefen Temperaturen eine höhere Stabilität. Bei leichtem Frost kann sich das Eis in den Zellen nicht ausbreiten, dies wird durch die dicke Cuticula und die Sklerenchyme verhindert. Die Blätter der Gehölze sind also sowohl bei starker Sonneneinstrahlung und hohen Temperaturen als auch bei leichten Minusgraden geschützt. In den Subtropen gibt es daher immergrüne Wälder mit sehr stabilen Blättern, die als Hartlaubwälder bezeichnet werden. In ihnen sind beispielsweise Lorbeerbäume besonders charakteristisch, und auch die Stechpalme kommt in solchen Wäldern vor (Pott et al. 2003, Pott 2005).
Hartlaubwälder mit dem Lorbeer hatten im Paläogen und Neogen größere Verbreitung als heute. Diese beiden Erdzeitalter wurden früher als Tertiär­-Periode bezeichnet, und deswegen nennt man einige Hartlaubgewächse, wenn sie hierzulande wachsen, »Tertiär­-Relikte«. Ihre Verbreitung wurde sehr stark begrenzt, weil die Jahresmitteltemperaturen auf der Kontinentalmasse, die heute Europa ist, während des Paläogens und Neogens von etwas über 20 °C auf etwas über 10 °C absanken (Woldstedt 1958). Das könnte damit zu tun gehabt haben, dass sich die Landmasse Europas durch die Kontinentalverschiebung aus subtropischen in heutige gemäßigte Breiten verlagerte. Mit der Zeit kamen dort immer weniger immergrüne Gehölze vor. Schließlich überlebten in Europa nur noch diejenigen Laubgehölze, die ihre Blätter im Herbst verloren und sie dann im Frühjahr erneut austreiben ließen.
Insofern sind nicht die immergrünen Bäume der Sonderfall, sondern diejenigen Gehölze, die sich saisonal entwickeln. Das ist bei nur wenigen Gehölzarten der Fall. Dennoch sind sie in einem regenreichen Klima immergrünen Nadelbäumen überlegen, die genauso wie die Hartlaubgewächse eine dicke Cuticula auf ihrer Blattepidermis besitzen; ihre Blätter sind nur sehr viel schmaler als diejenigen Hartlaubgehölze und deswegen noch stabiler als die von Lorbeer und Stechpalme; ihre Zellen können auch bei noch niedrigeren Temperaturen nicht von innen zerrissen werden. Die Laubbäume in den regenreichen gemäßigten Zonen entwickeln sich aber dennoch in der warmen Jahreszeit rascher als Nadelbäume; sie verdrängten Nadelbäume in west­ und mitteleuropäischen Wäldern.

Die Stechpalme im Eiszeitalter

Während des Eiszeitalters, in den vergangenen etwa zweieinhalb Millionen Jahren, wurde das Klima nicht nur allmählich immer kälter, sondern es kam zu starken Klimaschwankungen, in denen die Temperaturen mehrmals in der Größenordnung von 10 °C ab­ und wieder zunahmen. In Kaltphasen wuchsen in Europa nördlich der Alpen überhaupt keine Bäume mehr. Alle Holzgewächse, ob immergrün oder nur periodisch grün, hielten sich nur kleinräumig in der Nähe des Mittelmeeres, das für eine Stabilisierung der Temperaturen bei wenig über 0 °C sorgte; es gab selten Frost. Auch die Stechpalme kam dort vor. Andere Hartlaubgewächse, sofern sie im ausgehenden Neogen noch zur europäischen Vegetation gehörten, überdauerten die Kaltzeiten auch am Mittelmeer nicht.
Die Stechpalme überstand Frost vielleicht wegen eines Charakteristikums ihrer Blätter besser als andere Hartlaubgehölze. Die stachelartig herausragenden Blattränder verhindern nicht nur, dass sie von Tieren gefressen werden, sondern zwischen ihnen wird Schnee festgehalten (Abbildung 1). Die Temperaturen auf einem von Schnee bedeckten Blatt sinken nicht so stark ab wie auf einem Blatt, auf dem der Schnee nicht liegen bleibt. In den Eiszeitrefugien kann die zeitweise ausgebildete Schneedecke zwischen den nach oben ragenden Blattfortsätzen ein wirksamer Schutz gegen Frost gewesen sein. Kleinere Exemplare von Stechpalmen wurden nach stärkerem Schneefall völlig von Schnee bedeckt. Bei größeren Individuen war es besonders günstig, wenn vor allem die unteren Blätter »stachelig« ausgebildet waren, denn absinkende kalte Luftmassen führen zu Bodenfrost, den von Schnee bedeckte Blätter eher ertragen als solche, denen die schützende Schneeschicht fehlt.

Die Stechpalme in der Nacheiszeit

Die roten Steinfrüchte der Stechpalme werden von Vögeln gefressen, die die inneren Fruchtteile und die Samen später wieder ausscheiden. Dabei wirkt sich als günstig aus, dass der Vogelkot, der die Diasporen der Stechpalme umgibt, wichtige Mineralstoffe enthält, etwa Phosphat oder Nitrat, so dass die Keimung der Samen begünstigt wird. Vögel können die Diasporen der Stechpalme über weite Entfernungen transportieren, so dass bald nach dem Ende einer Kaltzeit Stechpalmen schon in Regionen wuchsen, die weit vom Mittelmeer und den dortigen Eiszeitrefugien entfernt lagen.
Schon bald nach dem Beginn der Nacheiszeit wurde die Stechpalme nicht nur in der Biskaya nachgewiesen, sondern auch an der englischen Südküste und sogar in Schottland, nur etwa ein Jahrtausend später auch an der Südwestküste Norwegens. Die Stechpalme konnte im niederschlagsreichen, milden Westeuropa besonders gut wachsen. Dort entwickelten sich auch die größten Stechpalmen, deren Höhe mit weit über zehn Metern, auch fünfzehn Metern angegeben wird. Solche hohen Stechpalmen findet man aber nicht nur auf den Britischen Inseln, sondern – begünstigt durch die Klimaverhältnisse am Golfstrom – sogar im Westen Norwegens (Hegi 1906 ff.)
Vögel brachten die Früchte auch in weiter östlich gelegene kontinentalere Gegenden, wo sich Stechpalmen ebenfalls zeitweise behaupten konnten, etwa in Ungarn, Mähren und Schweden (Zusammenstellung der Funde bei Lang 1994). Dazu muss es kein generell milderes Klima gegeben haben; wir wissen nicht, wie lange sich die Pflanze in den kontinentaleren Gebieten Mitteleuropas gehalten hat, ehe eine deutliche Frostperiode das Areal der Pflanze wieder einschränkte. Bei Kahlfrost und einer fehlenden Schneedecke wurden die immergrünen Blätter durch Eisbildung in ihrem Inneren zerstört.

Die Stechpalme in Hutewäldern

Junge Stechpalmen als Unterwuchs an einem WaldrandZoombild vorhanden

Abbildung 2: Unterwuchs von Stechpalme in einem ehemals beweideten Wald nördlich von Hannover (© Dr. H. Küster)

Die Stechpalme ist ein typisches Gewächs vor allem bodensaurer Laubwälder (Abbildung 2). Sie gedeiht in dichten Buchenwäldern, besonders gut aber auch in lichten Eichenbeständen, die von jahrtausendelanger Beweidung geprägt sind. Rinder und Schafe fressen die stacheligen Blätter der Stechpalme nur ungern. Ziegen sind weniger empfindlich; sie werden in Westeuropa aber weniger gehalten als Schafe, so dass sich die Stechpalme wenig gehindert durch Viehfraß ausbreiten konnte. Viele Wälder, in denen die Stechpalme häufig vorkommt, sind ganz offensichtlich ehemalige Hutewälder. In diesen Beständen verschwindet die Stechpalme nicht unbedingt, sie wird aber doch seltener und bildet keine so hohen Individuen mehr aus. Werden diese Wälder nach Aufgabe der Beweidung (Waldhute) dann zunehmend dichter, übernehmen Buchen die Dominanz gegenüber den Eichen. Die stacheligen Blätter von Ilex aquifolium werden verbreitet als Anpassung an den Fraß von Tieren gedeutet.
Für eine andere These spricht jedoch, dass, gegenüber den wenigen Jahrhunderten der Waldweide (Beginn der Viehhaltung in Europa schon in prähistorischer Zeit, verstärkt in Mitteleuropa jedoch erst nach der Völkerwanderungszeit mit einer Hochphase im Mittelalter), diese Eigenheit der Blätter bereits auf eine andere Überlegenheit der Individuen zurückging, nämlich der vor Kälte schützenden Wirkung der Schneebedeckung zwischen den »Stacheln« (siehe Absatz »Stechpalme im Eiszeitalter« in diesem Beitrag). Für diese Ansicht würde die (überwiegend) nach oben gerichtete Anlage der stacheligen Blattfortsätze sprechen.

Die Stechpalme als Klimazeiger

Aktuelle 0°-Januarisotherme und Verbreitung der Stechpalme im historischen VergleichZoombild vorhanden

Abbildung 3: Historischer Verlauf der 0°-Januarisotherme und Verbreitung der Stechpalme im nördlichen Mitteleuropa und in Südskandinavien (links), aktueller Verlauf der 0°-Januarisotherme und Neufunde der Stechpalme (rechts) (nach Kölling u. Walther 2007)

Schon lange sind viele Biologen, Klimaforscher und Geographen fasziniert von der Feststellung, dass sich die 0 °C -Januarisotherme und die Ostgrenze der Stech­palmenverbreitung in Nord­ und Mitteleuropa stark äh­neln (Abbildung 3). Die Verbreitung einer Pflanzenart kann aber nicht durch eine Durchschnittstemperatur bestimmt werden, sondern nur durch das Vorkommen starker Fröste begrenzt werden. Insofern ist es Zufall, dass die Januarisotherme und die östliche Verbreitungsgrenze der Stechpalme sich weitgehend entsprechen (Iversen 1944).

Heute breitet sich die Stechpalme nach und nach aus, etwa im Süden der skandinavischen Halbinsel und in Mitteleuropa (Berger et al. 2007). Dies könnte als Indiz für den Klimawandel gelten; aber ein kalter Winter, in dem nicht viel Schnee fällt, sondern lange Kahlfrost herrscht, könnte ausreichen, um die Verbreitungsgrenze der Stechpalme wieder weit in den Westen zu verschieben, weil die Individuen im Gebiet östlich des Schwarzwaldes, östlich von Rügen und an den Küsten der skandinavischen Halbinsel erfrieren. Auch muss bedacht werden, dass die Verbreitung der Stechpalme nicht nur vom Klima, sondern auch von der Aufgabe der Waldweide in vielen Gegenden Europas beeinflusst sein könnte.

Summary

The distribution of Ilex and Hard-Leaves Forests in Europe since the Paleogene is outlined. The »spikes« of the leaves retain snow and therefore possibly protect leaves against frost, especially in an oceanic climate. The »spikes« also protected the plants against browsing animals during the last millennia.

Literatur

  • Berger, S.; Söhlke, G.; Walther, G.-R. und Pott, R. 2007: Bioclimatic limits and range shifts of cold-hardy evergreen broad-leaved species and their norther distributional limit in Europe. Phytocoenologia 37 (3-4), 523-539
  • Hegi, G. 1906: Illustrierte Flora von Mitteleuropa. 13 Bände. München 1906 ff.
  • Lang, G. 1994: Quartäre Vegetationsgeschichte Europas. Methoden und Ergebnisse. Jena, Stuttgart, New York
  • Pott, R. 2005: Allgemeine Geobotanik. Biogeosysteme und Biodiversität. Berlin, Heidelberg
  • Pott, R.; Hüppe, J.; Wildpret de la Torre, W. 2003: Die Kanarischen Inseln. Natur- und Kulturlandschaften, Stuttgart
  • Woldstedt, P. 1958: Das Eiszeitalter, Stuttgart

Beitrag zum Ausdrucken

Weiterführende Informationen

Autor