Andreas König
Artgerechte Überwinterung und Notzeit von Rehen – LWF aktuell 129

AG »Wildbiologie und Wildtiermanagement« der TUM forscht zum Thema Winterfütterung – mit aufschlussreichen Ergebnissen

Alle Jahre wieder erscheint das Thema Winterfütterung, sobald es etwas winterlich mit Schnee wird. Diskussionen, Forderungen und Aussagen sind in der Regel emotional. Daher lohnt es, wissenschaftlichen Fakten zur Energieversorgung der Rehe durch die Vegetation im Herbst und Winter, ihren Umgang damit und ihre aufgenommene Energie sowie der Frage, wann eigentlich Notzeit sein könnte, nachzugehen.
Diesen Aufgaben widmet sich seit einigen Jahren die AG »Wildbiologie und Wildtiermanagement« am Lehrstuhl für Tierernährung der TU München.

Über wen reden wir?

Das Reh gehört neben Rentier und Elch zu den Hirscharten, deren natürliches Verbreitungsgebiet am weitesten nach Norden – bis zum Polarkreis in Skandinavien – sowie in den Bergen selbst im Winter über die Baumgrenze geht (Andersen et al. 1998; Geist 1999; Hofmann & Nievergelt 1972; Müller 1982; Sempre et al. 1996; Stubbe 1997). Rehe sind auf Grund ihrer Körpergröße, Form und Fellbeschaffenheit bestens an kalte Regionen und strenge Winter angepasst (Geist 1999). Die Allen‘sche Regel, wonach Arten einer Gattung, die an kalte nördliche Gebiete angepasst sind, kleinere Körperextremitäten und Anhänge haben, passt beim Reh sehr gut (Geist 1999).

Wann kann es theoretisch zu einer Notzeit für Rehe kommen?

Fettreserven sind bei Rehen im Winter am höchsten, während der Energibedarf gering ist. Einen Engpass kann es nur geben, wenn die Reserven aufgebraucht sind, der Bedarf steigt und die Vegetation keine Energie bereitstellt. (verändert nach Hofmann 1981)Zoombild vorhanden

Abb. 1: : Schematische Darstellung der Zusammenhänge zwischen Energieaufnahme, Fettreserven und Energiebedarf bei Rehen im Jahresverlauf (Grafik: LWF)

Der Frage, wann Notzeit sein könnte, ist bereits Hofmann in den 1970er und 80er Jahren nachgegangen. Um durch den Winter zu kommen, haben unsere Wildwiederkäuer Strategien entwickelt, die über ein extrem gut isolierendes Fell, einer Reduktion des Stoffwechsels bis hin zu einem thermoneutralen Bereich bis –10 °C reichen (Andersen et al. 1998; Arnold 2003, 2013; Bubenik 1984; Hofmann 1981).

Abbildung 1 zeigt den Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme, Fettreserven und Energiebedarf bei Rehen im Jahresverlauf (Hofmann 1981). Notzeit gibt es bei Wildtieren dann, wenn alle Reserven abgebaut sind, der Stoffwechsel steigt und die Nahrung keine Energie liefert. Nach Hofmann (1981) kann das bei Wildwiederkäuern nur im März und April sein, hohe Schneelagen im Januar und Februar spielen keine Rolle (König & Zannantonio 2006). Das deckt sich zum Beispiel mit den höchsten Rissraten von Wölfen im März/April (Smith et al. 2004), da ihre Beutetiere geschwächt sind. Dann bringen auch Bartgeier ihre Jungen synchron mit dem hohen Fallwildaufkommen zur Welt.

In den letzten 40 Jahren haben sich die phänologischen Phasen durch den Klimawandel verschoben und die Vegetation beginnt heute gut 15 Tage früher zu ergrünen (Menzel 2006; Stahl 2016). So fällt der April als mögliche Notzeit aus. Aktuell könnte es daher, wenn überhaupt, nur im März zu einem Engpass und einer möglichen Notzeit für Wildwiederkäuer kommen.

Fettreserven und Körpermasse der Rehe im Jahresverlauf

Aktuelle Daten aus Bayern zeigen hohe Körpergewichte und Fettreserven im Winter sowie keine Gewichtsverluste im Spätwinter und Frühjahr. Die Reserven werden nicht gebraucht.Zoombild vorhanden

Abb. 2: Nierenfettindex (blau) als Maß für die Fettreserven (KFI, N=234) und Körpergewicht, aufgebrochen (grün) von einjährigen und mehrjährigen Rehen (N=173) Grafik: LWF)

Da Not durch Energiedefizite verursacht wird, müssen die Reserven und die Energieversorgung betrachtet werden.

Wie bei Hofmann (1981) beschrieben (Abbildung 1), legen Rehe im Herbst und Frühwinter hohe Fettreserven an, um niedrigere Energiedichten der Vegetation im Winter auszugleichen. Ab Februar beginnen sie, diese Fettreserven abzubauen (Abbildung 2, blaue Linie). Das bestätigen aktuelle Daten zur Rehernährung für Bayern (König et al. 2016). Weiterhin bleibt die Körpermasse zwischen Januar und April etwa konstant (grüne Linie). Laut den bayerischen Daten benötigen Rehe ihre Fettreserven im Spätwinter und Frühjahr nicht bzw. nur in geringem Umfang, sonst hätte ihre Körpermasse abgenommen.

Verluste der Körpermasse im Laufe des Winters bei Rehen werden zwischen 20 und 30 % als normal betrachtet (Bubenik 1971; Holand et al. 1998). Im Durchschnitt wiegen unsere untersuchten erwachsenen Rehe im Winter 15,5 kg und im Frühjahr 15,1 kg, was dem Jahresdurchschnitt von 15,1 kg entspricht.
In laufenden Studien zeigen adulte ungefütterte Rehe aus den Bergen mit ca. 17,2 kg die höchsten Durchschnittsgewichte.

Energiedichte der Nahrung von Rehen

Zwei rehe stehen im Schnee und äsenZoombild vorhanden

Abb. 3: Nur weil Schnee liegt, haben die Rehe noch lange keine Notzeit. (Foto: ©PantherMedia / Lubos Chlubny)

Unseren Daten (N=245) zur Rehnahrung stammen aus einem naturnahen Waldhabitat und einem intensiv genutzten Agrarhabitat. Den Jahresverlauf der Energiedichte der Äsung zeigt Abbildung 4. Bis auf den Monat Mai liegt die Energiedichte in der Kulturlandschaft (Feldrehe) immer über jener der Naturlandschaft (Waldrehe). Diese Differenz ist zur Erntezeit besonders ausgeprägt.

Das Argument für eine Fütterung, die Kulturlandschaft biete keine Äsung für Rehe, entbehrt somit der wissenschaftlichen Grundlage. Durch die hohe Energiedichte der Äsung im Agrargebiet im Winter und Frühjahr, die über dem Jahresdurchschnitt des Waldes liegt, unterliegen auch Feldrehe im Winter keiner Beeinträchtigung. Wie zu erwarten, sind im Januar und Februar die Energiedichten in der Naturlandschaft abgesunken, jedoch erreicht die früh einsetzende Vegetation im März das Energieniveau des Jahresdurchschnitts.

Wie gehen Rehe mit schwankender Energiedichte um?

Die Energiedichte ist in der Kulturlandschaft im Durchschnitt um ein Megajoule umserztbare Energie / Tag höher als in der Naturlandschaft. Das ist vor allem im Winter ausgeprägt, Fütterung ist nicht notwendig.Zoombild vorhanden

Abb. 4: : Median der Energiedichte der von Rehen aufgenommenen Äsung (N=245) (Grafik: LWF)

In Abbildung 5 ist die durchschnittlich täglich aufgenommene umsetzbare Energie mit Minimum- und Maximumwerten dargestellt. Trotz signifikant unterschiedlicher Energiedichten nehmen im Jahresdurchschnitt Rehe in beiden Habitaten pro Tag etwa die gleiche Menge an Energie auf. Trotz abnehmendem Pansenvolumen im Winter (Hofmann 1981 & 1989; König et al. 2020) äsen Rehe im Wald pro Tag ca. 600 g und in den Bergen ca. 800 g mehr als Feldrehe, wodurch sie niedrige Energiedichten in der Nahrung ausgleichen.
Mit diesen Anpassungen decken Rehe in der Regel ihren Energiebedarf von ca. 3,2–4,3 Megajoule (MJ) pro Reh und Tag das ganze Jahr aus der vorhandenen Äsung (Bobek 1980; Hartfiel et al. 1985; Onderscheka 1999; Oslage & Strothmann,1988; Weiner 1977).

Beschaffenheit der Äsung unserer Rehe

Im Jahresverlauf nehmen Feld- und Waldrehe im Durchschnitt gleich viel Energie auf. Um das zu erreichen, äsen Waldrehe mehr.Zoombild vorhanden

Abb. 5: Median der pro Tag und Reh aufgenommenen umsetzbaren Energie, differenziert für Waldrehe und Feldrehe (N=245) (Grafik: LWF)

Hofmann teilt alle Wiederkäuer in die Gruppen a) Konzentrat-Selektierer, wozu Reh und Elch gehören, b) Intermediäre-Typen, wozu Gams und Rothirsche zählen, sowie c) Raufutterfresser, mit Mufflon und Steinbock als Vertreter ein (Hofmann 1982, 1989). Er unterstellt, dass für Reh und Elch »leichtverdauliche Pflanzenteile oder Pflanzen unbedingt notwendig«...sind. »Faserreiche Äsung wie Grasheu ist ungeeignet, weil der Rehpansen zu wenig zellulosezersetzende Bakterien besitzt« (Hofmann 1982, S. 13). Allerdings beweisen umfangreiche datenbasierte Studien, dass Rehe als Wiederkäuer nicht nur in der Lage sind, Fasern zu verwerten, sondern diese auch benötigen.

Eine so enge Zuordnung zwischen den Äsungstypen und den durch die Arten aufgenommen Pflanzen wie von Hofmann (1982 & 1989) beschrieben, besteht nicht (Behrend et al. 2004; Clauss 2010; Djordjevic et al. 2006; Hartfiel et al. 1985; Holand 1994; Lechner et al. 2009; Obidzinski et al. 2017; Robbins et al. 1995; Serrano Ferron et al. 2011; Woodall 1992). Im Gegenteil:

In der Rehäsung finden sich im Durchschnitt nicht nur Rohfaseranteile von 21–38 % mit Maxima von 49 % Trockenmasse, die jenen von Rotwild (25–30 %) oder Mufflon (22–34 %) (Briedermann et al. 1988; Drescher-Kaden & Seifelnasr 1977) entsprechen, sondern sie zeigen auch eine üppige Ausstattung ihres Pansenmikrobioms mit faserzersetzenden Bakterien und Pilzen (Dahl et al. 2020; König et al. 2016).

Die Notzeit-Mast

Jedes Jahr kommen im Winter Interpretationen der Notzeit vor wie: »Auf jeden Fall liegt eine Notzeit vor, wenn das Wild durch Frost und Schnee einige Zeit an der Nahrungsaufnahme gehindert ist«, für Feldreviere wird das sogar für die Erntezeit postuliert. Der Kommentar zum Jagdrecht von Leonhardt führt bei § 19 BJagdG aus, dass die Notzeit sich nicht nach Schnee und Eis bestimmt, sondern vielmehr nach den Äsungs- und Ernährungsbedingungen (Leonhardt 1986). Sie ist also revierabhängig und kann nicht pauschal ausgerufen werden.

In der aktuellen Fütterungspraxis werden als Notzeitfutter vielfach Mischungen mit 30–50 % Getreideanteilen (z. B. Hafer, Gerste, Mais) und entsprechend wenig Raufutter (z. B. Grummet) empfohlen, welche durch deutlich zu niedrige Faseranteile bei gleichzeitig zu hohen Protein- und Kohlenhydratanteilen gekennzeichnet sind.

Derartige Mischungen enthalten ca. 15 % Fasern pro Kilogramm Trockenmasse, und das in einer Jahreszeit, in der Rehe freiwillig zwischen 26 und 49 % Trockenmasse Fasern aufnehmen. So niedrige Faseranteile bei gleichzeitig hohem Protein- und Kohlehydratangebot im Pansen führen zur Bildung von Propion- und Milchsäure, der Pansen pH-Wert sinkt unter pH 6, wodurch eine Pansenazidose verursacht wird (Deutz et al 2009). Pansenazidose ist in Österreich der Hauptverursacher für Fallwild bei Rehen im Winter (Arnold 2020).

Rehe mit zu niedrigem pH-Wert im Pansen nehmen aus der Waldvegetation Fasern auf, um ihren pH-Wert anzuheben. Diese Futtermischungen weisen eine Energiedichte von ca. 10– 12 Megajoule umsetzbare Energie (ME MJ) pro Kilogramm Trockenmasse (TM) auf, während natürliche Äsung eine Energiedichte zwischen 4 und 6,3 ME MJ/kg TM bereitstellt.

Diese vorgeschlagene Notzeitfütterung hat eine Energiedichte, die normal für »Hochleistungsmilchkühe« und zur »Mast« verwendet wird. Getreide jeglicher Art bewirkt zu hohe Energiedichten und ist kein Erhaltungsfutter im Sinne einer Notzeitfütterung. Im Gegenteil –Getreide in einer Fütterung zwingt das Reh regelrecht dazu, verstärkt Fasern aufzunehmen, um den pH-Wert im Pansen anzuheben. Damit trägt Getreide in der Fütterung zu weiterem Verbiss bei.

Zusammenfassung

Das Reh ist in Bayern die Hirschart, die am besten an kalte und strenge Winter angepasst ist. Rehe selektieren ihre Äsung, jedoch nicht nach »Konzentrat«, sie sind einfach nur Selektierer. Rehe können wie jeder Wiederkäuer Fasern verwerten und benötigen diese auch. Sie überleben den Winter in der Regel durch Reserven und Anpassung an die Vegetation ohne zusätzliche Fütterung.

Energiedefizit und Notlage könnten sie höchstens im März haben, was auf Grund des Klimawandels aber sehr unwahrscheinlich ist. Schnee und Frost bedeuten dagegen per se keine Notzeit. Potenzielle Notzeit muss immer revierweise unter Berücksichtigung der Kondition der Tiere und der vorhandenen natürlichen Äsung beurteilt werden. Häufig vorgeschlagene Futtermischungen haben nicht nur zu wenig Faseranteile für Rehe, sondern haben eine Energiedichte, die in der Regel zur Mast von landwirtschaftlichen Nutztieren verwendet wird. Getreide jeder Art hat in einer Erhaltungsfütterung nichts zu suchen.
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